Verordnung
über die Fähigkeitsprüfung für den Rechtsanwaltsberuf
(vom 26.Juni 1974) FN1

Das Obergericht verordnet:

§ 1. Zur Abnahme der im Gesetz über den Rechtsanwaltsberuf FN2 vorgesehenen Rechtsanwaltsprüfung wählt das Obergericht eine Prüfungskommission.

§ 2. Die Kommission besteht aus neun Mitgliedern und der erforderlichen Zahl von Ersatzleuten. Sie wird für die Abnahme der einzelnen Prüfungen in der Regel mit fünf Mitgliedern besetzt, ist indessen bereits mit drei Mitgliedern beschlussfähig.

§ 3. Als Mitglieder oder Ersatzleute der Prüfungskommission sind wählbar:

- Mitglieder des Obergerichtes und des Verwaltungsgerichtes;

- Rechtslehrer an schweizerischen Hochschulen;

- praktizierende Rechtsanwälte.

In der Kommission sollen alle drei Berufsgruppen vertreten sein.

Die Amtsdauer beträgt sechs Jahre.

Die Mitglieder und Ersatzleute können der Prüfungskommission bis zur Erreichung der für Ersatzleute des Obergerichtes massgebenden Altersgrenze angehören.

§ 4. Das Obergericht wählt eines seiner Mitglieder zum Präsidenten der Prüfungskommission. Dieser nimmt die Anmeldungen entgegen, setzt die Prüfungstermine fest und bezeichnet die Examinatoren für die einzelnen schriftlichen und mündlichen Prüfungen.

§ 5. Die Zulassung zur Prüfung setzt voraus:

a) Schweizer Bürgerrecht;

b) Handlungsfähigkeit;

c) guten Leumund;

d) Wohnsitz oder anrechenbare Berufstätigkeit im Kanton Zürich im Zeitpunkt der Anmeldung und mindestens während eines Jahres vorher;

e) eidgenössische oder kantonale Maturität eines zum Rechtsstudium an der Universität Zürich berechtigenden Typus;

f) abgeschlossenes juristisches Studium, zur Hauptsache an schweizerischen Hochschulen;

g) praktische Tätigkeit während mindestens eines Jahres nach Studienabschluss bei einem zürcherischen Gericht als Richter, Gerichtsschreiber, Sekretär, Substitut oder Auditor oder als Substitut bei einem zürcherischen Rechtsanwalt. Bei der Berechnung der Jahresfrist sind Abwesenheiten, insbesondere solche wegen Krankheit, Unfalls, Militärdienstes oder Ferien, abzuziehen.

§ 6. Die Erfüllung der Zulassungsbedingungen ist durch Zeugnisse der Wohngemeinde, durch Prüfungs- und Arbeitsbescheinigungen nachzuweisen. Ferner sind mit der Anmeldung eine Lebensbeschreibung sowie eine Erklärung im Sinne von § 4 des Gesetzes über den Rechtsanwaltsberuf FN2 einzureichen.

§ 7. Die Verwaltungskommission des Obergerichtes kann ferner nach Anhörung der Aufsichtskommission über die Rechtsanwälte zur Prüfung zulassen:

a) Bewerber, welche die Anforderungen von § 5 lit. d nicht erfüllen, sofern auf andere Weise eine enge Verbundenheit mit dem Kanton Zürich und durch praktische Tätigkeit erworbene Vertrautheit mit dem kantonalen Recht dargetan werden;

b) Bewerber ohne schweizerische Maturität, die sich über eine sonstwie erworbene gute Allgemeinbildung ausweisen;

c) Bewerber mit nicht abgeschlossenem, jedoch gleichwohl ausreichendem juristischem Studium.

Ferner kann die Verwaltungskommission juristische Tätigkeit in einer in § 5 lit. g nicht erwähnten Stellung ganz oder teilweise an das Praxisjahr anrechnen, jedoch höchstens bis zur Dauer von sechs Monaten.

§ 8. Gesuchen im Sinne von § 5 des Gesetzes über den Rechtsanwaltsberuf FN2 sind hinsichtlich der Person, für welche um das Recht zur Prozessführung nachgesucht wird, die Ausweise gemäss § 5 lit. a-f sowie die Bescheinigung über ein Gerichts- oder Anwaltspraktikum von mindestens sechs Monaten beizulegen.

Die Erlaubnis wird von der Verwaltungskommission auf die Dauer eines Jahres erteilt. Sie kann erstreckt werden, jedoch in der Regel nicht länger als auf ein weiteres Jahr.

§ 9. Der Präsident der Prüfungskommission verfügt die Zulassung zur Prüfung, sofern alle Voraussetzungen gemäss § 5 dieser Verordnung erfüllt sind. Ist eine Bewilligung im Sinne von § 7 erforderlich oder hält er die Voraussetzungen zur Zulassung nicht für erfüllt, so überweist er die Akten mit seinem Antrag der Verwaltungskommission zum Entscheid.

§ 10. Werden nach der Zulassung Tatsachen bekannt, welche die Ehrenhaftigkeit oder die Zutrauenswürdigkeit des Bewerbers in Frage stellen, so entscheidet die Verwaltungskommission nach Anhörung der Aufsichtskommission über die Rechtsanwälte darüber, ob die Prüfung fortgesetzt werden dürfe oder die Zulassung zu widerrufen sei.

§ 11. Die Prüfung soll ergeben, ob der Bewerber die zur Berufsausübung erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten besitze. Sie erstreckt sich auf folgende Gebiete des Bundesrechts und des zürcherischen Rechts:

- Staats- und Verwaltungsrecht;

- Obligationenrecht;

- übriges Zivilrecht (einschliesslich internationales Privatrecht);

- Zivilprozessrecht (einschliesslich Anwaltsrecht);

- Schuldbetreibungs- und Konkursrecht;

- Straf- und Strafprozessrecht.

Sie besteht aus einem schriftlichen und einem mündlichen Teil.

§ 12. Die einzelnen Teilprüfungen werden von der Kommission als bestanden oder als nicht bestanden erklärt. Noten oder Qualifikationen werden nicht erteilt. Vorbehalten bleiben die §§ 16 und 17.

§ 13. In der schriftlichen Prüfung sind ein oder mehrere Rechtsfälle aus den in § 11 genannten Gebieten zu bearbeiten. Den Bewerbern werden die erforderlichen Gesetzestexte zur Verfügung gestellt.

Die Prüfung wird in Klausur abgelegt. Ihre Dauer darf zehn Stunden nicht übersteigen.

§ 14. Besteht ein Bewerber die schriftliche Prüfung nicht, so kann er sich innert sechs Monaten, von der schriftlichen Mitteilung des Ergebnisses an gerechnet, einer zweiten Klausurprüfung unterziehen. Fällt auch diese ungenügend aus, so kann er nach einer Wartefrist von mindestens sechs und höchstens zwölf Monaten eine dritte Prüfung ablegen. Befriedigt auch die dritte Arbeit nicht, so weist die Prüfungskommission den Bewerber ab.

§ 15. Die mündliche Prüfung ist in der Regel innert sechs Monaten, von der Mitteilung des Resultates der schriftlichen Prüfung an gerechnet, abzulegen. Es dürfen nicht mehr als zwei Bewerber gemeinsam geprüft werden.

§ 16. Bewerber, die innert fünf Jahren vor der Anmeldung zur Anwaltsprüfung an einer schweizerischen Hochschule das juristische Doktor- oder Lizentiatsexamen mit der Note «sehr gut» bestanden haben, sind von der mündlichen Prüfung in den Fächern Obligationenrecht, übriges Zivilrecht und materielles Strafrecht befreit, sofern auch die Klausurarbeit sehr gut ausfällt.

§ 17. Fällt die mündliche Prüfung ungenügend aus, so bestimmt die Prüfungskommission auf Grund des Gesamtergebnisses der schriftlichen und mündlichen Prüfung, ob die mündliche im ganzen Umfange oder in einzelnen Fächern zu wiederholen sei. Wird Teilwiederholung angeordnet, so sind die Leistungen des Bewerbers in den einzelnen Fächern zu bewerten, und es sind die Qualifikationen (sehr gut, gut, genügend oder ungenügend) zu protokollieren.

Die Wiederholung findet in der Regel frühestens drei und höchstens neun Monate nach der ersten Prüfung statt. Fällt das Gesamtergebnis unter Mitberücksichtigung der früher bestandenen Teilprüfungen wiederum ungenügend aus, so weist die Prüfungskommission den Bewerber ab.

§ 18. Abgewiesene Bewerber können sich frühestens zwei Jahre nach der letzten Teilprüfung zu einer neuen Prüfung anmelden. Sie haben die ganze Prüfung zu bestehen.

Die Wartefrist gilt auch für Bewerber, die ihre Anmeldung nach Beginn der Prüfungen zurückziehen.

§ 19. Die Prüfungskommission erstattet der Verwaltungskommission Bericht über jede bestandene Prüfung und stellt Antrag auf Erteilung des Fähigkeitszeugnisses.

§ 20. Das Obergericht stellt das Fähigkeitszeugnis aus, das dem Rechtsanwalt vom Obergerichtspräsidenten übergeben wird. Der Obergerichtspräsident ermahnt dabei den Rechtsanwalt zu gewissenhafter Erfüllung seiner Berufspflichten.

§ 21. Für ihre Tätigkeit erhalten der Präsident, die Mitglieder und die Ersatzleute der Prüfungskommission folgende Entschädigungen:

a) für die Leitung einer schriftlichen Prüfung mit einem oder zwei Bewerbern:


b) für die Mitwirkung bei der Beurteilung schriftlicher Prüfungen:
c) für die Mitwirkung an einer mündlichen Prüfung: ein Taggeld, bei Prüfung in zwei Fächern 11/4 Taggelder.
d) der Präsident der Prüfungskommission für die Geschäftsleitung, Antragstellung usw.:
§ 22. Für die gleichzeitige schriftliche Prüfung von mehr als vier Bewerbern und für andere grössere Bemühungen, die nicht unter § 21 lit. a-d fallen, kann die Verwaltungskommission von Fall zu Fall besondere Entschädigungen zusprechen.

§ 23. Die Staatsgebühr gemäss § 42 des Gesetzes über den Rechtsanwaltsberuf FN2 und die Kanzleikosten sind von den Bewerbern vorzuschiessen und zu bezahlen.

Die Verwaltungskommission kann unbemittelten Bewerbern die Kosten ganz oder teilweise erlassen.

§ 24. Nach Genehmigung der Verordnung durch den Kantonsrat setzt die Verwaltungskommission des Obergerichtes den Zeitpunkt ihres Inkrafttretens fest. Die Verordnung über die Fähigkeitsprüfung für den Rechtsanwaltsberuf vom 8. Juli 1938 wird gleichzeitig aufgehoben.

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FN1 OS 46, 284 und GS II, 195.
FN2 215.1.